16. BRIEF AN EINE KUNSTFREUNDIN
Tiefenbach, den 28.August
1994
Liebe M.,
nach unseren
Telefongesprächen über meine augenblickliche Arbeit habe ich den Eindruck,
mich rechtfertigen zu müssen. Eigentlich will ich das nicht, habe mir seit
zwanzig Jahren geschworen, mich für meine Kunst nicht mehr zu rechtfertigen,
und bin nun bei einer Thematik, wo nicht nur Du Rechtfertigung verlangst.
Beim Thema "Tod" hört für viele, die sich sonst vorurteilsfrei mit meiner
künstlerischen Arbeit beschäftigen, der Spaß auf.
Anfang
vergangenen Jahres kommt ein Künstlerkollege zu mir und bittet um meine
Mitarbeit an einem Projekt mit ihm bekannten Handwerkern. Es soll um das
Thema "Räume" gehen. Nach anfänglichem Zögern kommt es ein paar Monate
später zu einem Gespräch mit Tischlermeisterin und -meister. Wir sitzen auf
dem Balkönchen über dem Lindelbach, und ich lasse mir die Pläne der beiden
erläutern. Meine Pläne sehen zu dem Zeitpunkt eigentlich anders aus. Mit
Möbeln und Raumgestaltung habe ich erst mal nichts im Sinn. Es kostet die
beiden einige Mühe, mich von ihrer Idee zu überzeugen. Dann beginne ich
zunächst damit, ganz vorsichtige Gedankenskizzen zu äußern, werde allmählich
konkreter, bin auf einmal bei der Planung für einen Wohnraum für einen
Single, denke diese Idee weiter - bis an ein Ende - und bin bei dem Raum, in
dem jemand auch ein multifunktionales Möbelstück hat, in dem er sich
begraben lassen kann, einen Schlafsarg. - Das Erkennen des Makabren läßt das
Gespräch kurz stocken und entlädt sich dann in einem befreienden gemeinsamen
Lachen, das im Bachtal verklingt.
Liebe
Freundin, natürlich hätte ich mich an dem Projekt nicht beteiligen müssen,
natürlich hätten meine Ideen auch zu einem ganz anderen Raum führen können,
aber mich hat die mehr zufällig gefundene Thematik schlagartig so
fasziniert, daß ich mich sehr schnell in die Planung gestürzt und auf die
Ausführung gedrungen habe.
In
einem seiner Romane schreibt Leo PERUTZ: "Der Sitz der Phantasie ist
zugleich der Sitz der Furcht. Das ist es! Furcht und Phantasie sind unlösbar
miteinander verknüpft. Immer waren die großen Phantasten zugleich Besessene
der Angst und des Grauens." Zu den großen Phantasten rechne ich mich zwar
nicht, aber daß sich meine Kunst häufig an der Grenze zu Angst und Grauen
bewegt hat, ist Dir bekannt. Aber was kann derjenige tun, der von Angst und
Grauen erfüllt ist? Er kann sich eigentlich nur retten, wenn er sich damit
auseinandersetzt. Und immer wieder konfrontiert er sich damit, um zu
überprüfen, ob er damit leben kann, - ohne den Verstand zu verlieren. Seit
einigen Jahren glaube ich, mit dem Grauen in mir leben zu können, auf eine
Überprüfung kann ich aber nicht verzichten, und das Zimmer, das ich jetzt
ausstelle, ist eben ein solcher Test, den ich für mich bisher als positiv
verlaufen betrachte.
Tod
und Sterben sind uns allen von der Geburt an mit auf den Weg gegeben. In
unserem Kulturkreis ist Tod allerdings im Laufe der Geschichte immer mehr
versteckt und tabuisiert worden. Zwar wird er uns heute fast täglich mit den
Fernsehnachrichten ins Wohnzimmer geliefert, aber er geht uns persönlich
kaum etwas an. Wer wird schon von Grauen getroffen, wenn er die aus
zerschlagenen Möbelteilen zusammengenagelten Särge sieht, in denen die
Menschen z.B. in den Kriegsgebieten des ehemaligen Jugoslawien ihre Toten
verscharren?
Und da
wage ich es, einen Sarg zu entwerfen, in dem einer vielleicht die letzten
Jahre seines Lebens schläft und seine Liegeproben macht! - Die einzige
übrigens, die meine Idee bisher ganz normal fand, ist Gudrun, meine
Studienkollegin und alte Freundin in Hannover, die Du ja auch schon lange
kennst. Sie, die bei ihrem Großvater, einem Schreiner in Beetzendorf,
aufgewachsen ist, erzählte mir, daß der Großvater häufig für reiche Bauern
die Särge zimmern mußte, die dann auf den Scheunenboden des Auftraggebers
gestellt wurden, damit man im Bedarfsfall nicht in irgendeinem Sarg, sondern
in dem schon zu Lebzeiten angefertigten bestattet wurde. Gudrun kann bei all
dem kein Grauen empfinden, denn sie sah als Kind die Gesellen in der
Schreinerei in Särgen das Mittagsschläfchen machen und spielte in der
Werkstatt mit all den Papierartikeln, die zur Ausschmückung der Särge
dienten.
Ich
weiß ja, liebe M., daß ich gegen ein Tabu verstoße und nur bei wenigen mit
so viel Verständnis wie bei Gudrun rechnen kann. Ein Zitat von Marcel PROUST
- auf die bildende Kunst statt auf die Literatur bezogen - würde lauten:
"das Werk eines Künstlers sei lediglich eine Art von optischem Instrument,
das der Künstler dem Betrachter anbietet, damit er erkennen möge, was er in
sich selbst vielleicht sonst nicht hätte erschauen können".
Meine
Rauminstallation heißt "AN DAS LEBEN GEFESSELT" oder "Lebensraum für einen
alten Weisen". Von den einfachen Möbeln in dem Raum, von Tisch, Stuhl,
Stehpult und Schlafsarg abgesehen, gibt es zwei "Bilder", die große in den
Sargdeckel oder Baldachin gepolsterte Vulva und den mitten im Raum stehenden
Arm, dessen Hand ein Auge hält.
Diese
Symbolik der beiden Objekte erinnert an eine meiner Arbeiten, die ich vor
zwanzig Jahren gemacht habe. Sie trägt den Untertitel "Sich hinüberretten in
einen Weltinnenraum". Mit diesem Denkanstoß möchte ich es heute bewenden
lassen, sonst müßte ich noch einen umfangreichen Exkurs auf die ägyptische
und antike Kunst, die Todesdarstellungen im 19. und zu Beginn des 20.
Jahrhunderts sowie längere Ausführungen über die Affinität von Eros und Tod
anschließen. - Wie ich Dich kenne, wirst Du mir Deine Gedanken, spätestens
wenn Du die Ausstellung gesehen hast, nicht vorenthalten.
Mein
Brief an Dich soll diesmal nicht so lang werden, wie Du es gewohnt bist.
Neben den anderen Reden, die auf dem Programm stehen, will ich ihn zur
Ausstellungseröffnung als meinen Beitrag vorlesen.
Liebe
Freundin, laß Dir nur noch versichern, daß mich große Lebensfreude erfüllt,
dass ich mir vorstelle, etwa achtzig Jahre alt zu werden, und daß ich Dich
von Herzen grüße.
J.
Dieser
Brief wurde am 24.9.1994 bei der Ausstellungseröffnung "HANDWERK UND KUNST
-LEBENSRÄUME" in Wetzlar vorgelesen. Er wurde veröffentlicht in der EDITION
EINHORN GREIFENSTEIN in dem Band: Johannes J.Musolf, Liebe M., Briefe an
eine Kunstfreundin, 1994.
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