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AN DAS LEBEN GEFESSELT

LEBENSRAUM FÜR EINEN ALTEN WEISEN        1994

 

Der Raum ist gleichzeitig Lebensraum und Sterbezimmer.  In diesem Raum kann jemand leben, der einerseits mit dem Leben abgeschlossen hat, auf sein Leben zurückschaut, andererseits deutlich fühlt, noch an das Leben gefesselt zu sein.

Der Bewohner soll stehen, sitzen und liegen können. Wenn er in seinem Bett stirbt, soll er nicht in einen Sarg umgebettet werden müssen. Der Baldachin wird auf ihn herabgesenkt, und sein Bett wird zu seinem Sarg.

Aus diesen Prämissen bestimmen sich die Funktionen der notwendigen Möbelstücke.

 
 

 

Stuhl, wie ein Thronsessel, der dem Benutzer seine eigene Wichtigkeit als Person deutlich macht.

Tisch, einfach und nüchtern. An diesem Tisch kann man lesen, schreiben, zeichnen und essen. Die leere Tischfläche ist gleichzeitig eine begrenzte Projektionsfläche für Bilder und Gedanken.

Stehpult, an dem man in aufrechter Haltung lesen und schreiben kann.

 

 

 

   

 

Schlafsarg, bestimmendes Möbelstück des Raumes. Die Tragestangen des Sarges werden an ihren Befestigungspunkten um 900 nach oben gedreht und bilden so die Haltestangen für den Sargdeckel. 

 

Der Sargdeckel dient als Baldachin für das Sargbett. In den Sargdeckel ist eine Vulva gepolstert. 

Plastik in der Raummitte. Ein ca. 2,40 m hoher Arm mit einer Hand, die ein Auge hält.

 

 

 

 
 

 

 

 

 

16. BRIEF AN EINE KUNSTFREUNDIN

 

Tiefenbach, den 28.August 1994

 

Liebe M.,

 

nach unseren Telefongesprächen über meine augenblickliche Arbeit habe ich den Eindruck, mich rechtfertigen zu müssen. Eigentlich will ich das nicht, habe mir seit zwanzig Jahren geschworen, mich für meine Kunst nicht mehr zu rechtfertigen, und bin nun bei einer Thematik, wo nicht nur Du Rechtfertigung verlangst. Beim Thema "Tod" hört für viele, die sich sonst vorurteilsfrei mit meiner künstlerischen Arbeit beschäftigen, der Spaß auf.

 Anfang vergangenen Jahres kommt ein Künstlerkollege zu mir und bittet um meine Mitarbeit an einem Projekt mit ihm bekannten Handwerkern. Es soll um das Thema "Räume" gehen. Nach anfänglichem Zögern kommt es ein paar Monate später zu einem Gespräch mit Tischlermeisterin und -meister. Wir sitzen auf dem Balkönchen über dem Lindelbach, und ich lasse mir die Pläne der beiden erläutern. Meine Pläne sehen zu dem Zeitpunkt eigentlich anders aus. Mit Möbeln und Raumgestaltung habe ich erst mal nichts im Sinn. Es kostet die beiden einige Mühe, mich von ihrer Idee zu überzeugen. Dann beginne ich zunächst damit, ganz vorsichtige Gedankenskizzen zu äußern, werde allmählich konkreter, bin auf einmal bei der Planung für einen Wohnraum für einen Single, denke diese Idee weiter - bis an ein Ende - und bin bei dem Raum, in dem jemand auch ein multifunktionales Möbelstück hat, in dem er sich begraben lassen kann, einen Schlafsarg. - Das Erkennen des Makabren läßt das Gespräch kurz stocken und entlädt sich dann in einem befreienden gemeinsamen Lachen, das im Bachtal verklingt.

Liebe Freundin, natürlich hätte ich mich an dem Projekt nicht beteiligen müssen, natürlich hätten meine Ideen auch zu einem ganz anderen Raum führen können, aber mich hat die mehr zufällig gefundene Thematik schlagartig so fasziniert, daß ich mich sehr schnell in die Planung gestürzt und auf die Ausführung gedrungen habe.

In einem seiner Romane schreibt Leo PERUTZ: "Der Sitz der Phantasie ist zugleich der Sitz der Furcht. Das ist es! Furcht und Phantasie sind unlösbar miteinander verknüpft. Immer waren die großen Phantasten zugleich Besessene der Angst und des Grauens." Zu den großen Phantasten rechne ich mich zwar nicht, aber daß sich meine Kunst häufig an der Grenze zu Angst und Grauen bewegt hat, ist Dir bekannt. Aber was kann derjenige tun, der von Angst und Grauen erfüllt ist? Er kann sich eigentlich nur retten, wenn er sich damit auseinandersetzt. Und immer wieder konfrontiert er sich damit, um zu überprüfen, ob er damit leben kann, - ohne den Verstand zu verlieren. Seit einigen Jahren glaube ich, mit dem Grauen in mir leben zu können, auf eine Überprüfung kann ich aber nicht verzichten, und das Zimmer, das ich jetzt ausstelle, ist eben ein solcher Test, den ich für mich bisher als positiv verlaufen betrachte.

Tod und Sterben sind uns allen von der Geburt an mit auf den Weg gegeben. In unserem Kulturkreis ist Tod allerdings im Laufe der Geschichte immer mehr versteckt und tabuisiert worden. Zwar wird er uns heute fast täglich mit den Fernsehnachrichten ins Wohnzimmer geliefert, aber er geht uns persönlich kaum etwas an. Wer wird schon von Grauen getroffen, wenn er die aus zerschlagenen Möbelteilen zusammengenagelten Särge sieht, in denen die Menschen z.B. in den Kriegsgebieten des ehemaligen Jugoslawien ihre Toten verscharren?

Und da wage ich es, einen Sarg zu entwerfen, in dem einer vielleicht die letzten Jahre seines Lebens schläft und seine Liegeproben macht! - Die einzige übrigens, die meine Idee bisher ganz normal fand, ist Gudrun, meine Studienkollegin und alte Freundin in Hannover, die Du ja auch schon lange kennst. Sie, die bei ihrem Großvater, einem Schreiner in Beetzendorf, aufgewachsen ist, erzählte mir, daß der Großvater häufig für reiche Bauern die Särge zimmern mußte, die dann auf den Scheunenboden des Auftraggebers gestellt wurden, damit man im Bedarfsfall nicht in irgendeinem Sarg, sondern in dem schon zu Lebzeiten angefertigten bestattet wurde. Gudrun kann bei all dem kein Grauen empfinden, denn sie sah als Kind die Gesellen in der Schreinerei in Särgen das Mittagsschläfchen machen und spielte in der Werkstatt mit all den Papierartikeln, die zur Ausschmückung der Särge dienten.

Ich weiß ja, liebe M., daß ich gegen ein Tabu verstoße und nur bei wenigen mit so viel Verständnis wie bei Gudrun rechnen kann. Ein Zitat von Marcel PROUST - auf die bildende Kunst statt auf die Literatur bezogen - würde lauten: "das Werk eines Künstlers sei lediglich eine Art von optischem Instrument, das der Künstler dem Betrachter anbietet, damit er erkennen möge, was er in sich selbst vielleicht sonst nicht hätte erschauen können".

Meine Rauminstallation heißt "AN DAS LEBEN GEFESSELT" oder "Lebensraum für einen alten Weisen". Von den einfachen Möbeln in dem Raum, von Tisch, Stuhl, Stehpult und Schlafsarg abgesehen, gibt es zwei "Bilder", die große in den Sargdeckel oder Baldachin gepolsterte Vulva und den mitten im Raum stehenden Arm, dessen Hand ein Auge hält.

Diese Symbolik der beiden Objekte erinnert an eine meiner Arbeiten, die ich vor zwanzig Jahren gemacht habe. Sie trägt den Untertitel "Sich hinüberretten in einen Weltinnenraum". Mit diesem Denkanstoß möchte ich es heute bewenden lassen, sonst müßte ich noch einen umfangreichen Exkurs auf die ägyptische und antike Kunst, die Todesdarstellungen im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts sowie längere Ausführungen über die Affinität von Eros und Tod anschließen. - Wie ich Dich kenne, wirst Du mir Deine Gedanken, spätestens wenn Du die Ausstellung gesehen hast, nicht vorenthalten.

Mein Brief an Dich soll diesmal nicht so lang werden, wie Du es gewohnt bist. Neben den anderen Reden, die auf dem Programm stehen, will ich ihn zur Ausstellungseröffnung als meinen Beitrag vorlesen.

Liebe Freundin, laß Dir nur noch versichern, daß mich große Lebensfreude erfüllt, dass ich mir vorstelle, etwa achtzig Jahre alt zu werden, und daß ich Dich von Herzen grüße.

                                                                                                              J.

 

Dieser Brief wurde am 24.9.1994 bei der Ausstellungseröffnung "HANDWERK UND KUNST -LEBENSRÄUME" in Wetzlar vorgelesen. Er wurde veröffentlicht in der EDITION EINHORN GREIFENSTEIN in dem Band: Johannes J.Musolf, Liebe M., Briefe an eine Kunstfreundin, 1994.

 

 

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